Donnerstag, 19. Dezember 2013

1941: Alexander Lernet-Holenia: Mars im Widder (Österreich)

Einmal, als Wallmoden die Bahn entlangging, sah er einen Expreßzug vorbeifahren. Er kam offenbar aus Pest oder Preßburg und fuhr nach Krakau oder Warschau. Er führte Speisewagen und Schlafwagen mit sich. Aber er fuhr so schnell, daß Wallmoden die Leute nicht genau wahrnehmen konnte, die darin saßen. Es war, als flögen die Gesichter von Gespenstern vorüber. Er schien ihm, daß der Zug, aus einer ganz andern Welt kommend, in eine ganz andre Welt fuhr. Hier jedoch war keine Welt. Hier war etwas wie ein Zwischenreich.
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September 1939. Wien. Ein Mann sieht auf einer Gesellschaft eine Frau. Er begleitet sie nach Hause. Sie ist, sie bleibt etwas mysteriös, sie hat schöne Beine. Er übergibt in ihrem Auftrag einen Brief, an einen Mann, der wohl auch nicht ist, wer und was er scheint. Es wird von Geistererscheinungen erzählt und über Schicksal geredet. Wallmoden heißt "die Hauptperson - um nicht zu sagen der Held". So wird er eingeführt. Ein schöner Held ist das, weiß selten was er tut, weiß manchmal nicht, ob er wacht oder träumt, ob die Frauen, die hinter der spanischen Wand in seinem Zimmer baden, real sind oder nicht. Oder eine Frau oder zwei. Von den Krebsen, die später, da ist dann schon Krieg, wir sind schon in Polen, in endloser Reihe über die Straße marschieren, zu schweigen.

 Die Frau mit den schönen Beinen heißt Kouba Pistolkohrs, sagt sie. Was für ein Name. Noch dazu falsch, angenommen, angeeignet, falscher Pass, das klärt sich, und klärt sich nicht, deutlich später. Am Schluss. Wallmoden, der schon im Ersten Weltkrieg gekämpft hat, sehr jung damals, ist mit seinen Schwadronen nun auf Polenfeldzug. Kontext gibt es nicht, die Realität, wie Alexander Lernet-Holenia sie beschreibt, ist nur ein seltsamer Dämmer, aus dem die Namen merkwürdiger und manchmal nur halbrealer Personen und die Namen polnischer Dörfer und Städte auftauchen, um wieder zu verschwinden.

 Übergenau im Halbrealen, das ist "Mars im Widder". Wie die Kommas, die der Autor so reichlich und einschubfreudig setzt, aber nichts kommt dadurch in Fluß, es werden Grenzen gesetzt in Sätzen, die stolpern und die den Dämmer des Ganzen nie wirklich zerreißen. Spät-k.u.k. Ein Mann wie ein Held, ein Mann wie ein Geist, ein Mann, der am Ende träumt oder tot ist, jedenfalls fliegt er in die Luft. Der Roman erschien als Vorabdruck in der Zeitschrift "Dame", die Buchveröffentlichung verbot Goebbels. Kein Wunder, es fehlt jeder sichere (schon gar ideologische) Grund.

Freitag, 13. Dezember 2013

1940: Dino Buzzati: Il deserto dei Tartari (Italien)

And beyond it, on the other side, what was there? What world opened up beyond that inhospitable building, beyond the ramparts, casemates and magzines which shut off the view? What did the northern kingdom look like, the stony desert no one had ever crossed? The map, Drogo recalled vaguely, showed beyond the frontier a vast zone with scanty names - but from the eminence of the Fort one would see some village, pastures, a house; or was there only the desolation of an uninhabited wast?

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Auf dem Pferd zieht er hinaus an die Grenze. Da liegt das Fort. Dahinter die Steppe, Berge am Rand und im Hintergrund als möglicher Feind die Tartaren. Im Fort seufzt die Zisterne, auch sonst Geräusche, die auf der Grenze zwischen Menschlichem und Nichtmenschlichem liegen. Giovanni Drogo, der Soldat, ein kleiner Josef K., kam, um schnell wieder zu gehen, und blieb Jahre, Jahrzehnte. In diesem Fort an der Grenze, die für die Grenze steht wie das Fort für das Leben, existenzialistisch gesehen, und der Tod für den Tod. Die Tartaren wären dann Verwandte von Monsieur Godot, avant la lettre, und wenn sie kommen, dann kommen sie nicht für uns, also den Helden Drogo. Der ist, wenn sie kommen, nämlich schon so gut wie hinüber.

Allegorisches also. Kafkanah, denkt man. Weil aber Kafka Kafka vor allem auf der Ebene seiner Sätze ist, die einander hintertreiben, denen Wort für Wort nicht zu trauen ist; und weil Kafka Kafka auf der Ebene seiner Denkbewegungen ist, die einander umschleichen, die sich den Boden, auf dem sie eben noch liefen, im nächsten, wenn nicht im selben Moment wegziehen; weil das bei Kafka so ist, bei Dino Buzzati jedoch nicht, ist das so kafkanah eben auch wieder nicht. Hier gehen die Sätze geradeaus, stehen stramm, wenn man so will, und auch die Gesamtallegorie macht keine Fisimatenten.

Es ist aber Platz für Episoden, etwa die vom anderen Sterben. Im Traum erst und dann auf dem Berg und im Schnee rafft es den Soldaten Angustina dahin: ein Bravourstück, kristallklar erzählt, nur hätte man sehr gut schon verstanden, dass im wirklichen Tod der Traum aus einem Kapitel vorher rekapituliert wird - es steht aber in Klammern alles immer noch einmal dahinter. Dino Buzzati traut also dem Leser nicht recht, und auch nicht sich selbst. Alles gnadenlos finster, nun gut. Aber auch alles so schrecklich verständlich.

Dienstag, 10. Dezember 2013

1939: John Fante: Ask the Dust (USA)

My plight drove me to the typewriter. I sat before it, overwhelmed with grief for Arturo Bandini. Sometimes an idea floated harmlessly through the room. It was like a small white bird. It meant no ill-will. It only wanted tohelp me, dear little bird. But I would strike at it, hammer it out across the keyboard, and it would die on my hands.

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Das ist Prosa, die singt. Sie singt von Arturo Bandini, dem Mann, der mit aller Macht Schriftsteller werden will. Sie singt davon, wie er das Leben nur als Stoff für sein Schreiben begreift. Aber weil die Stimme dieser singenden Prosa Arturo Bandini selbst ist, bricht diese Stimme im Singen von Anfang an. Und dieses Ich, "Ich, Arturo Bandini", spricht von sich nicht nur als (noch dazu erkennbar autobiografisch modelliertes) Ich, sondern eben auch als dieses Er, dieser Andere, Arturo Bandini, dem man als identifkationssüchtiger Leser die Schuld geben mag an manch verwerflicher Tat dieses Ich.

Da ist die Frau, die er aufsucht im Diner (wo sie kellnert), die er von sich wegstößt, die er quält, bei der er keinen hochkriegt am Strand, der er folgt, auf die er wartet, die sich ins Unglück stürzt mit den Drogen, mit dem anderen Mann mit seiner purple prose und mit TBC (wer weiß) in der Wüste, den sie liebt, der aber nichts von ihr will, sie mit rassistischen Sprüchen brutal vor den Kopf stößt. Und Arturo Bandini, der Möchtegernschriftsteller, der zum Schriftsteller wird, der alles, was ihm widerfährt, in Literatur verwandelt; der manches oder vieles oder alles nur tut, damit es Literatur werden kann; und der darüber hier schreibt, coming full circle, wie er als Nichtsnutz und Autor lebt, schreibt, nichtschreibt, liebt, nichtliebt, und das alles verwechselbar mit John Fante, dessen Mentor Henry Louis Mencken hier sehr wiedererkennbar in Briefen als ein Mr. Hackmuth auftritt.

Großartig ein Kapitel, das fast exterritorial zum Rest des Romans steht. Eine andere Frau, draußen, nicht in der Stadt, er fährt da raus und erlebt was und bevor er zurückkehrt, gibt es eine heftige Erschütterung, ganz buchstäblich, die Erde bebt und dann zurück in L.A. ist alles so drunter und drüber, wie es sich für diesen finsteren Schicksalsgesang des Arturo Bandini gehört. Der Mann schreibt sogar Erdbeben herbei. Was nur zeigt: Schreiberelend gebiert Größenwahn. Die Stadt mag wanken, die Sätze aber singen ungestört weiter.


Samstag, 7. Dezember 2013

1938: Evelyn Waugh: Scoop (Großbritannien)

Everything seemed quiet enough, but it was as much as their jobs were worth to say so, with Jakes filing a thousand words of blood and thunder a day. So they chimed in too. Government stocks dropped, financial panic, state of emergency declared, army mobilized, famine, mutiny, and in less than a week there was an honest to God revolution under way, just as Jakes had said. There's the power of the press for you.

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In den besseren Kreisen von London haben die Missverständnisse keine schlechten Eltern: Da wird auf einer Party ein Name geflüstert, Boot, Autor viel gelobter Romane, sapienti sat, der Premier schätzt ihn auch, und schon macht der Name an den richtigen Stellen die Runde; es trifft nur alles, weil keiner wirklich Bescheid weiß, und über Details wie Vornamen ist man erhaben, den Falschen. In Ishmaelia, irgendwo in Afrika, ist die Hölle los (möglicherweise) und weil die Zeitung - sie trägt den Namen Daily Beast - einen Korrespondenten vor Ort braucht, wird der ganz falsche Mann mit dem halb richtigen Namen, ein Boot vom Land und nicht aus der Stadt, ein Boot, der es mit der Fauna hat und nicht der Politik, dorthin verschickt. Er packt gut ein, bricht spät auf, hat als unser Mann in Ishmaelia mehr Glück als Verstand und trifft auf ein Kätchen. Dass er ohne viel eigenes Zutun den Super-Scoop landet, versteht sich, wie so vieles hier, fast von selbst, weil es das Genre verlangt.

Dieser Roman ist Satire. Er sucht den komischen Effekt. Schickt darum eine forsche Nebenheldin slapsticknah mit Babycar über Bordstein und Graben. Mit dem komischen Effekt ist es so, dass er immer wieder gelingt. Mit der Satire ist es anders. Auch sie gelingt, aber sie nimmt von der ersten Zeile an überhand, und das ist ein Problem. Was Scoop sich erfindet, ist eine ziemlich sterile eigene Welt, in der gleich alle und alles um mehr als ein sanftes Stück aus möglichen Wirklichkeiten verrückt sind. Da ist zu wenig harte Arbeit am Realitätsmaterial, da ist ein zu souveräner Zugriff auf Figuren und fremdes Land und fremde Leute. Von der Zeitung und vom fernen afrikanischen Land bekommt man so kaum mehr als Waughs Vorurteile zu beidem zu sehen.

Man ist amüsiert, klar. Aber ist das Humor, der sich zynisch gibt, oder Zynismus, der humoristisch tut? Macht es sich Waugh nicht, wenn ihm die eine Haltung zu heikel wird, in der anderen und damit unvereinbaren Haltung bequem? Ich fühlte mich jedenfalls unwohl, und nicht der Verhältnisse, sondern der ästhetisch-ethischen Unklarheit wegen, über die Waugh nicht hinauswill. Es kommt dazu, dass Ross Thomas sowas später sehr viel besser gemacht hat, besser weil böser, weil genauer, weil ohne aufs bloße Klischee der vom breiten Publikum ohnehin angenommenen Milieuschäden zu zielen. Seine Figuren leben. Und seine Sätze töten.

Montag, 2. Dezember 2013

1937: Joseph Roth: Das falsche Gewicht (Österreich)

Die meisten sterben dahin, ohne von sich auch nur ein Körnchen Wahrheit erfahren zu haben. Vielleicht erfahren sie es in der anderen Welt. Manchen aber ist es vergönnt, noch in diese Leben zu erkennen, was sie eigentlich sind. Sie erkennen es gewöhnlich sehr plötzlich, und sie erschrecken gewaltig. Zu dieser Art Menschen gehörte der Eichmeister Eibenschütz. 

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Postlapsarisch, von Anfang an, diese Geschichte: Anselm Eibenschütz hat seinen Abschied genommen beim Militär, hat eine Frau geheiratet, ohne es so recht zu wollen, wurde ans Ende der k.u.k-Monarchie versetzt, trägt seinen Schnurrbart noch immer mit Stolz, ist aber kein Soldat mehr, sondern ein Eichmeister, den in der Stadt an der Grenze zu Russland weiß Gott niemand braucht. Man lebt hier gut mit falschen Gewichten, jeder weiß um den Betrug und einer, der die krummen Linien, mit denen alle glücklich sind, mit dem Lineal des Gesetzes geradezuziehn versucht, macht sich vor allem eines: außerordentlich unbeliebt.

Einmal auf der schiefen Ebene gerät - den geraden Linien des Rechts sehr zum Trotz - alles ins Rutschen. Eibenschütz verliert die Lust an seiner Frau. Sie betrügt ihn und gebiert einen Sohn, nicht von ihm. Und Eibenschütz verliebt sich, in die Frau, die einem andern gehört, und als der abserviert ist, muss er sehen: Noch immer hat er sie nicht exklusiv, im Winter taucht ein Kastanienbrater auf mit Vorrecht. Die Dinge stehen also sehr schlecht. Eibenschütz beginnt zu trinken. Die Cholera kommt, tötet wahllos, auch Eibenschütz' Ehefrau, sie winkt ihm noch einmal zu, er verliert auch den Sohn, der nicht sein Sohn ist.
Alles ist düster und wird nur noch düstrer. Eibenschütz verliert in Unglück und Alkohol jedes Maß. Er lässt sich gehen, wird in der Ausübung des Gesetzes auf der anderen Seite fanatisch.

Der Ehrgeiz von Joseph Roth: Die Melancholie des Niedergangs einer Welt aus jeder Pore seiner Figuren zu schwitzen, in jede Ritze des gottverlassenen Kaffs an der Grenze zu schreiben. Falsch sind die Gewichte, falsch ist das Leben: Anselm Eibenschütz ist die Verkörperung eines Niedergangs, dem Joseph Roth seine eigene Poesie abgewinnt. Das Glück: vergänglich. Die Gesellschaft: zerfällt. Die Zukunft: schwarz in schwarz. Dafür jedoch ist Roths Prosa gemacht: Sie singt sehr schön vom Ende einer Epoche. Kein Benjaminscher Engel, eher eine unglücksbesoffene Nachtigall der Geschichte.

Dienstag, 26. November 2013

1936: C.F. Ramuz: Le garçon savoyard (Schweiz)

Sie hatten den See gerade an der Spitze ihrer Schuhe. Der See war an jenem Morgen erdfarben, so daß es war, als breitete sich unter ihnen eine riesengroße, dunkelgraue, von etwas helleren, sich überkreuzenden Straßen durchzogene Ebene aus. Sie war glatt und unbewohnt. Auf ihrer Oberfläche war übergenug Raum für Städte, Dörfer, Gebäulichkeiten aller Art, für Äcker und Felder und für einen großen Menschenverkehr: und so wunderte man sich, daß kein Mensch dort zu sehen war, weder auf den Straßen, die sich über das Wasser zogen, noch zwischen ihnen.

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Von einem Satz zum nächsten springt das Tempus, und im nächsten zurück: Präsens, Präteritum, Plusquamperfekt. Es ist kein Halten, es ist kein Halt. Einer träumt von einer Seiltänzerin, vom Zirkus, legt wie im Traum die Hände um den Hals einer anderen Frau, sie zu töten. Die ist es nicht, die er will, auch die, der er versprochen ist, ist es nicht. Mercedes, Georgette. Savoyen. Da ist das Gebirge, da ist der See, da ist das Wasser, da ist der Kahn, dessen Zeit zuende geht - Motorkahnzeitalter bricht an -, da ist das Lokal mit Mercedes, die Natur, die noch einmal alles auffährt an Poesie, was die Sprache nur für sie findet.

Ramuz entwirft aber Bilder, die nicht wie gemalt sind, sondern wie festgehalten mit einem dynamischer rahmenden, perspektivierenden Blick. Er hat, denkt man, Filme gesehen. Seine Sprache geht träumerisch dahin, ist nicht auf Unsichtbarkeit aus, durchwandert Berge und Täler wie das Lied, das in allen Dingen geschlafen hat und nun aufgewacht ist: ruhelos. Wiederholungen, als könnten sich Sätze vom einen zum nächsten vergessen. Ein Wurzelloser, ein Luftwandler ist dieser Joseph, von dem Ramuz erzählt, aber er ist alles andere als leicht, als schwerelos. Mörder auch, haltlos, kein Triebtäter, obwohl, was er tut, fast ohne seinen Willen geschieht: ein Dahintriebtäter vielleicht. Er geht durchs Gebirg, als wäre es ihm manchmal unangenehm, dass er nicht auf dem Kopf gehn kann.

Anderes geschieht, gut ist es nicht. Ein alter Mann, dem die eigene Tochter das Geld geklaut hat, hängt sich auf, hängt vier Tage am Strick, im Gebirge. Man schneidet ihn ab, Bäume hindern den Sturz in den Abgrund. Ein düsteres Buch, das der Zeit keinen Einhalt gebietet. Ein Buch, aus dem Finstres heraufmurmelt, in dem immer wieder einer sagt oder schreibt: Es war doch die Wirklichkeit. Es gibt das Leben, und das ist schön. Versicherungen, die sich den Boden, dessen sie sich versichern, im selben Atemzug wegziehen. Alles ändert, heißt es wieder und wieder in der ersten deutschen Übersetzung von Werner Johannes Guggenheim, alles ändert, das bekommt man kaum aus dem Ohr.

Donnerstag, 21. November 2013

1935: Georges Bernanos: Un crime (Frankreich)

"Mein Mißtrauen … ich finde leider kein anderes Wort … hat mir ermöglicht, eine ganze Anzahl anscheinend verwickelter Fälle aufzuklären … nur anscheinend verwickelt … und andere wieder hat es durcheinandergewirrt, manchmal dann unentwirrbar. In meiner Stellung ist Mißtrauen etwas Gutes, ja Ausgezeichnetes, solange es die Urteilskraft anregt, sie aber nicht beherrscht, es darf nicht in die Beurteilung eindringen. Die Gefahr besteht, daß der Mißtrauische schließlich seinem Mißtrauen mißtraut, und die nötige geistige Freiheit verliert." 

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Tief in der Nacht erreicht der neue Pfarrer Mégère. Tiefe Provinz. Er hört einen Schuss, oder will ihn gehört haben. Auf einem Anwesen findet man die Leiche einer alten Frau, die viel in der Welt unterwegs war, seit Jahren aber hier ihren Ruhesitz hat. Im Garten liegt ein junger Mann ohne Socken, noch nicht ganz tot, Erde und einen Stein im Mund, er wird bald sterben. Ein Verbrechen, ein Rätsel, ein sehr eigenwilliger Untersuchungsrichter, einige weitere Figuren, die sich verdächtig verhalten: alle Zutaten für einen Landhauskrimi sind also vorhanden.

Ein Landhauskrimi ist "Un crime" aber nicht. Aber was dann? Mit einem vertrackten Kriminalnarrativ gepimptes Gewissensdrama? Landschaftsmalerei mit Figuren, die mit sich, ihrer Vergangenheit ringen und - mehr als einer von ihnen - keine Zukunft mehr sehen? Wo will das hin, worauf will es hinaus, warum die ausführlichen Schilderungen von Natur, Dorf, Charakteren? Eindringlich schildert Bernanos Gedanken, Not einzelner Figuren, er differenziert sie weit aus bloßer Typisierung hinaus. Dann lässt er sie ziehen.

Ein Roman ohne Fokus, oder anders: Der Fokus wandert, immer wieder einzelne Szenen von äußerster Brennschärfe, dann geht der Blick anderswohin. Die Erzählung zielt (oder täuscht) Aufklärung an, verliert sie dann aus den Augen. Dem irrenden Blick kommen die Utensilien des Rätselkrimis im weiteren Verlauf  als präzise geschilderte Objekte und Knoten durchaus dazwischen. Briefe werden verbrannt, Geständnisse werden geschrieben, Raumverhältnisse vor Augen geführt, eine Fotografie, Vergangenheit, die in die Gegenwart drängt, Andeutungen des Pfarrers in unklarer Rede. Überhaupt der Pfarrer: Eigentlich Protagonist, dann aber weg. Als Charakter ein Rätsel, das nicht aufgelöst wird. Wie der ganze Roman, der nicht weiß, was er ist. Oder falls er es weiß: Ich weiß es nicht.